Richard Dyer Ehem. Senior Fellow

Richard Dyer

Forschungsprojekt

IRONISCHE BINDUNG: NINO ROTA, MUSIK UND FILM

Dieses Projekt möchte die Filmmusik von Nino Rota zu einer Anzahl von Debatten innerhalb der zeitgenössischen Kulturtheorie in Bezug setzen. Rota ist in jeder Hinsicht einer der bedeutendsten Komponisten von Filmmusik – überaus produktiv, erfolgreich, angesehen. Und doch werfen seine Praktiken und Vorgehensweisen auch Fragen bezüglich einer Reihe der in Film- und Kulturtheorie gängigen Paradigmen auf, einschließlich Modellen der Kulturproduktion, Vorstellungen von Affekt und Identifikation, des Begriffs Pasticcio und der Ansichten über die Rolle der Musik im Film. Durch eine systematische und konzentrierte Untersuchung von Rotas Werk will dieses Projekt dazu beitragen, diese Paradigmen zu hinterfragen und nuanciert darzustellen.
Nino Rota hat Musikstücke für über 160 Filme geschrieben, unter anderem für italienische Mainstream-Filme aus dem Neorealismus bis hin zu populären Komödien und Melodramen, sowie für Filme aus Großbritannien, Frankreich und der UdSSR. Daneben komponierte er in großem Umfang Konzert- und Theatermusik. Zu seinem internationalen Renomee haben beigetragen »Der Pate«-Trilogie, Vidors »Krieg und Frieden«, »Tod auf dem Nil«, »Nur die Sonne war Zeuge«, Zeffirellis »Romeo und Julia«, Viscontis »Rocco und seine Brüder« und »Der Leopard« und sowie alle Fellini-Filme von »Der weiße Scheich« bis zu »Orchesterprobe«. Er hat somit unter einem weiten Spektrum unterschiedlicher Produktionsbedingungen gearbeitet (z. B. kommerziell, künstlerisch ambitio- niert, populär, international). Dabei hat er zu einigen Regisseuren enge Beziehungen aufgebaut, zu anderen hingegen nur rein berufliche Kontakte gepflegt. Er war enorm produktiv und wird auch als einer der besten Komponisten von Filmmusik angesehen. Die Bandbreite seiner Arbeit bietet eine ausgezeichnete Grundlage, um Vorstellungen über die besondere Rolle eines Komponisten im Verhältnis zu anderen Künstlern zu überprüfen, die an der Pro- duktion von Filmen mitwirken. Ferner lassen sich an seinem Werk allgemein anerkannte Aussagen sowohl über den Film als solchen als auch speziell über die Musik im Film überprüfen.
Die Arbeitsweise, die Rota sogar mit seinen engsten Mitarbeitern pflegte, sticht in Bezug auf Vorstellungen über die Produktion von Kultur besonders hervor. Er war selten in die Planung und Dreharbeiten eines Films involviert, las oft das Drehbuch nicht und hat manchmal den Film nicht einmal gesehen. Mit Regisseuren, mit denen er eng kooperierte (z. B. Fellini, Visconti, Zeffirelli, Coppola, Monicelli), diskutierte er ausführlich verschiedene Alternativen und nahm oft deren musikalische Vorschläge auf, wobei er diese aber subtil modifizierte. Bei anderen Partnern traf er oft erst in letzter Minute ein und machte manchmal lediglich eine vage Andeutung dessen, was der Regisseur verlangte, zur Grundlage seiner Komposition. Oft ging er dabei auf die Angaben eines Produzenten oder Musikers genauso ein wie auf die eines Regisseurs. Bei all seinen Filmmusiken verwendete er oft eigene vorherige Arbeiten erneut und zog bestehendes Material anderer Komponisten oder Klischeemotive hinzu. Dennoch reagiert seine Arbeit einerseits sehr stark auf die Besonderheiten der Menschen, mit denen bzw. für die er gerade arbeitet (er wurde aus diesem Grund oft ein musikalisches Chamäleon genannt) und ist andererseits gleichzeitig durch eine Anzahl wiederkehrender Elemente charakterisiert, sowohl was den musikalischen Charakter als auch was die erzählerische Vorgehensweise angeht. Rotas Arbeit liefert so- mit ein Fallbeispiel für die Dynamik und Variabilität in kreativem Handeln und für Kontrolle, Zusammenarbeit und Interaktion innerhalb der Kulturerzeugung. Sie zeigt insbesondere die Präsenz und Dauerhaftigkeit von Handlungskraft, die Rolle der Intentionen und der Wechselwirkungen zwischen ihnen sowie die Bedeutung unterschiedlicher persönlicher und institutioneller Bedingungen, denen die Produktion von Kultur unterliegt.
Eine Analyse des Zusammenwirkens der oben dargestellten Faktoren in den Filmen selbst legt nahe, allgemein anerkannte Thesen über das Wesen des filmischen Texts zu verfeinern oder in Frage zu stellen. Die Studie trägt insbesondere dazu bei, die Begriffe Affekt, Identifikation, Pasticcio sowie Musik und Film zu überdenken.
In den letzten Jahren ist das Interesse an Fragen des Affekts und verwandter Begriffe, wie Gefühl und Emotion, neu erwacht. Das gegenwärtige Projekt (dessen Autor sich bereits lange für diese Fragen interessiert) positioniert sich als Teil dieser Untersuchung der zentralen Bedeutung des Affektiven, verortet sich aber gleichfalls in der Nachbarschaft theoretischer Erkenntnisse der Kulturforschung, nämlich dass Gefühle geschichtlich und kulturell geprägt sind und dass Kunst immer eher eine semiotische Konstruktion von Gefühl ist als selbst Gefühl zu sein. Was eine Untersuchung von Rotas Werk hier hinzufügt, ist ein Beispiel für eine Art von Musik, die, völlig dem Gefühl verpflichtet, sich ihrer eigenen historischen und kulturellen Bestimmtheit bewusst ist, ohne dass dabei ein Verlust von Gefühl einträte. Dies hebt die in der Ästhetik des 20. Jahrhunderts vertretene Dichotomie zwischen einem Schwelgen in Emotionen und emotionaler Distanziertheit auf und tritt außerdem der Annahme entgegen, dass Ironie und ein Be- wusstsein über sich selbst der emotionalen Expressivität zuwiderlaufe.
Mit dieser Untersuchung verbunden, wirft das Studium Rotas und des Affektiven Fragen über das vorherrschende Modell der Identifikation in Bezug zu narrativen Texten auf. Rotas Vorgehensweise legt eher ein Modell »ironischer Bindung« (ironic attachment) nahe, demzufolge die affektive Rolle der Musik den Betrachter weder in eine unentrinnbare Identifikation mit einer Figur oder der Kamera hineinzieht noch ihn in eine Position des Unbeteiligtseins oder der Entfremdung drängt. Stattdessen spielt er auf Aspekte unserer Beziehung zur realen Welt an, wie Mitleid, Interesse, Zuneigung und Sympathie. Hier wird auch der Begriff Pasticcio hilfreich (Thema des neuesten Buchs des Verfassers), im Sinne einer Art von Nachahmung, die sich selbst als Nachahmung kennzeichnet. Rotas Werk ist reich an solchen signalisierten Nachahmungen, einschließlich Referenz, Parodie, Selbstplagiat, Zitat und verschiedener Varianten von Pasticcio, von denen jede ein Bewusstsein über die geschichtliche Bedingtheit von (musikalischen) Formen des Affekts ins Spiel bringt, ohne dass (notwendigerweise) ein Verlust von Affekt einträte.
Diese Aspekte von Affekt, Identifikation und Pasticcio, die selbst zum Teil aus Rotas Arbeitsweisen und -situationen erklärbar sind, werden erreicht, indem Rota Standardelemente der Verwendung von Musik im Film auf präzise Weise einsetzt. Er verwendet Underscoring, Leitmotive, diegetische and nichtdiegetische Musik, bereits existierende und von ihm geschaffene Filmmusiken, Genre und Referenz. Er handelt diesen Praktiken aber auch zuwider und kompliziert und nuanciert sie. Dieses Projekt basiert auf einer sehr präzisen Analyse von Rotas Vorgehensweise, die deren Details besondere Aufmerksamkeit schenkt, wenngleich sie auf das weitere Spektrum der oben skizzierten Fragen ebenfalls Bezug nimmt: Tatsächlich ist es eines der methodischen Prinzipien des Projekts, dass alle allgemeinen Überlegungen stets anhand einzelner Details in einem Prozess überprüft werden müssen, der die Wahrnehmung des jeweiligen Details modifiziert und seinerseits von diesem modifiziert wird.