Almira Ousmanova Ehem. Senior Fellow

Almira Ousmanova

Für aktuelle Informationen zu Almira Ousmanova siehe hier.

Froschungsprojekt

Das Projekt widmet sich der Erkundung der Beziehung zwischen der Bilderwelt und der »geschichtlichen Vorstellungswelt« der sowjetischen Kultur. Die Untersuchung konzentriert sich auf das sowjetische Kino der 1920er bis 1960er Jahre aus der Perspektive aktueller Debatten über die sowjetische Kultur und die Weisen ihrer Konzeptualisierung. Den theoretischen Fragen, die die Interpretation visueller Bilder für die Zwecke einer soziologischen oder historischen Untersuchung mit sich bringt, soll besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. (In diesem Sinne soll das sowjetische Kino auch als »Fallbeispiel« für die Reflexion über die Methodologie der Analyse visueller Darstellungen dienen.) »Das Sowjetische« wird hier sowohl als eine ästhetische Kategorie verstanden (die sich auf den spezifischen visuellen Stil und künstlerische Konventionen bezieht, welche als ein Darstellungs-»Kanon« erkennbar sind, der der sowjetischen Sehkultur zu eigen ist) als auch als ein anthropologischer Begriff (der sich auf eine bestimmte Lebensweise bezieht, auf kulturspezifische Werte, semiotische Systeme, Rituale und verschiedene Alltagspraktiken der sowjetischen Ära.)
Der erste Teil meines Buchs wird sich auf die Untersuchung methodologischer Fragen konzentrieren. Visuelle Medien haben unsere Vorstellung von Geschichte erheblich verändert und neue kulturelle Modelle des Mnemonischen hervorgebracht. Bilder spielen innerhalb der Mechanismen der Verbreitung (oder Unterdrückung) des kollektiven Gedächtnisses eine wichtige Rolle. Sie beeinflussen, wie wir über die Vergangenheit denken und stellen die Gemeinsamkeit und Kontinuität von Erfahrung her. Doch ist visueller Text (sei es Film, Werbung oder Fotografie) keine bloße Widerspiegelung gesellschaftlicher Realität: Sein Bezug zu dem, was «Wirklichkeit” genannt werden kann, ist viel komplizierter als wir zu denken gewohnt waren (besonders, wenn wir mit dem so genannten filmischen »Realismus« zu tun haben). Es wäre zutreffender zu sagen, dass Filme »bestimmte Versionen sozialer Vorstellung« zum Ausdruck bringen (Norman Denzin), denn sie fassen »die Empfindsamkeiten, Bestrebungen und Träume von Gesellschaften in besonderen historischen und gesellschaftlichen Situationen« wie in einer Zeitkapsel zusammen. Visuelle Darstellungen wirken aktiv dabei mit, gelebte Erfahrung zu strukturieren und verständlich zu machen: was noch nicht vollständig aufgedeckt oder verstandesmäßig begriffen wurde, kann dennoch durch filmische Erzählung artikuliert und »transkribiert« werden. Mit anderen Worten, das Kino nimmt an einer geschichtlichen Semiose teil, es fängt das ein und macht es sichtbar, was sich einer sprachlichen Beschreibung entziehen könnte. Es bildet Ideale, Bedürfnisse, unbewusste Wünsche, Träume, patriotische Gefühle, versteckte Fremdenfeindlichkeit oder Gesellschaftspessimismus ab, welche dann in den Bereich des Gesellschaftlichen projiziert werden. Das Kino erlaubt uns, die geschichtliche Vorstellungswelt einer gegebenen Gesellschaft zu betreten und zu erfahren, was sie über sich selbst denkt, oder genauer, welches Bild sie von sich selbst hat. Der zweite Teil meiner Untersuchung widmet sich der »geschichtlichen Vorstellungswelt« der Sowjetunion, der Erkundung der Dialektik des »Sichtbaren und Unsichtbaren« in der Alltagskultur im Vergleich zu ideologischen Diskursen, der Betrachtung der spezifischen »Topoi des Sehens«, die der sowjetischen Kultur in verschiedenen Phasen ihrer Geschichte zu eigen waren, und der Rolle der visuellen Medien bei der Ausformung der sozialen und kulturellen Identität sowjetischer Männer und Frauen. Da sich visuelle Darstellungen zwischen der offiziellen und der inoffiziellen politischen und gesellschaftlichen Sphäre hin- und herbewegen, verdecken sie verschiedene gesellschaftliche Probleme in gleichem Maße wie sie sie sichtbar machen; und sie sind in der Lage, solche Themen zu artikulieren, die in verbalen Texten vielleicht verschwiegen worden wären. Michelle Lagny zufolge registriert das Kino eine Vielzahl gesellschaftlicher und kultureller Veränderungen, die erst viel später verstanden werden können: Es 'spiegelt' und konstruiert gleichermaßen geistige Einstellungen, kulturelle Stereotypen und die Einstellung der Gesellschaft zu bestimmten Tabuthemen (wie Sexualität, Verbrechen, Drogen etc.), und es reagiert auch empfindsam auf politischen und ideologischen Wandel.